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Rückblick auf die documenta fifteen: Kein Beispiel für zukünftige Debatten

Jannis Niedick, Jules Moskovits, & Agata Maria Kraj

21.12.2022

Vorwürfe, Kritik, Polarisierung. Nach einem Sommer voller Diskussionen um (vermeintlich) antisemitische Kunstwerke auf der documenta fifteen machten auch wir uns Ende September einen eigenen Eindruck von der größten Kunstausstellung der Welt, in der dieses Jahr die Erfahrungen von Kunstschaffenden aus dem globalen Süden im Vordergrund stehen sollten. Stimmen, die bei Kunstveranstaltungen und im öffentlichen Diskurs des globalen Nordens oft ungehört bleiben.

Die diesjährigen documenta mag inzwischen in der Vergangenheit liegen, doch wie uns beispielsweise die darauf folgenden Ereignisse um das Theaterstück „Vögel“ oder die antisemitischen und verschwörungsideologischen Äußerungen von Rapper Ye (Kanye West) zeigten, sind Diskurse um Antisemitismus in Kunst und Kultur keine Seltenheit. Sie flammen mit Regelmäßigkeit auf. Wir haben uns seit unserem documenta-Besuch intensiv zum documenta-Diskurs ausgetauscht und möchten unsere Gedanken dazu teilen, denn die nächste Antisemitismus-Debatte kommt bestimmt.

Parallelen und viele offene Fragen

Die Eindrücke aus Kassel und die Diskussionen um Antisemitismus sehen wir in ähnlicher Form in unseren bisherigen Analysen von potenziell antisemitischen Social Media Inhalten, die wir in unserer ersten Studie erhoben haben. Vor dem Hintergrund unseres Forschungsprojekts, das zum Ziel hat, jungen Menschen kompetente Antworten auf antisemitische Hassreden zu vermitteln, ergeben sich daraus viele neue Fragen:

Wie sollen wir junge Menschen für den Umgang mit Antisemitismus in sozialen Medien sensibilisieren, wenn schon das Erkennen von Antisemitismus und der Umgang damit auf der weltweit bedeutendsten Ausstellung für zeitgenössische Kunst derart umstritten ist? Wie können wir über Antisemitismus aufklären, jüdische Perspektiven ernst nehmen und gleichzeitig die Erfahrungen von Menschen mit einbeziehen, die in einer post-kolonialen Gesellschaft alltäglich Rassismus und Ausgrenzung ausgesetzt sind?

Antisemitismus… Nicht bei uns?! 

Collage aus weißen T-Shirts, welche per Hand in schwarzem Marker dekoriert sind. Auf dem sichtbarsten T-Shirt steht: "ANTISEMITISMUS #neindanke." Auf anderen: "Rote Karte gegen Diskriminierung, Rassismus und Antisemitismus." "Mensch ist Mensch." "Human Rights."

Niemand möchte als Antisemit*in gelten. Bei der documenta und in Sozialen Medien finden sich unzählige allgemeine Bekenntnisse gegen Antisemitismus. Gleichzeitig fehlt es an einem gemeinsamen Verständnis davon, wie vielfältig und versteckt sich Antisemitismus zeigen kann. Bekenntnisse gegen Antisemitismus sind wenig wert, wenn nicht anerkannt wird, dass sich antisemitische Narrative nicht nur am rechten Rand finden, sondern unsere Gesellschaft bis heute prägen und sich in ihrer jeweiligen Zeit immer als vermeintlich rationale Erklärung der Welt darstellten.

Die konkrete Problematisierung von antisemitischen Äußerungen führt dementsprechend regelmäßig zu Abwehrhaltungen; Antisemitismusvorwürfe werden zurückgewiesen. Jüdische Stimmen werden in diesem Zusammenhang kaum gehört, sie gelten vielmehr als „ewige Störenfriede und Miesmacher*innen“ (International Auschwitz Committee, 2022) und folgen damit einer Logik, die am Ende zur Stärkung antisemitischer Narrative führen kann. Einer Logik, die suggeriert, Jüdinnen*Juden würden versuchen, sich von unliebsamer Kritik zu befreien. Wir haben diesen Reflex auf der documenta gesehen und wir sehen ihn täglich in den sozialen Medien.

Starke Vereinfachung und gefährliche Dichotomie

Foto einer großen Pappfigur, welche auf eine grün-geflieste Wand montiert ist. Die Figur stellt eine Kreatur mit dem Körper eines Menschen und dem Kopf eines Teufels dar. Sie trägt ein helles Hemd, eine Krawatte, Hose, Gürtel und Anzugschuhe. Kopf und Hals der Figur sind rot, Haare und Schnurrbart schwarz und die Zähne spitz. Der Bauch der Figur ist aufgebläht und erinnert an einen Globus. Darin schweben Gegenstände wie ein Dollarschein und ein Auto. Die Kreatur isst ein fingergroßes Häuschen.

Grundlegend für die antisemitische Argumentation ist es, Jüdinnen*Juden eine besondere Macht zuzuschreiben, die hinter all den Missständen auf der Welt stehe und von diesen profitiere. Ungerechte (globale) politische und wirtschaftliche Verhältnisse müssen natürlich problematisiert werden, marginalisierte Stimmen müssen gehört werden. Eine vereinfachte Darstellung dieser Verhältnisse führt allerdings oftmals (wenn auch nur implizit geäußert) zu der Frage, wer dahintersteckt und ermöglicht damit eine antisemitische Erklärung der Welt. Es braucht keinen expliziten Verweis auf Jüdinnen*Juden, um antisemitische Stereotype zu bedienen: Dafür reicht schon die Einteilung der Welt in Gut und Böse, wenn die „Bösen“ dieser Welt mit Symbolen von Macht, Reichtum, Gier und Hinterlistigkeit gekennzeichnet werden.

Eine Einteilung, die wir auch in postkolonialen Diskursen beobachten und bei der scheinbar zwangsläufig immer wieder der Fokus (nur) auf Israel gerichtet wird: David gegen Goliath, hier ironischerweise mit Israel in der Rolle des Goliath. Ob bei der documenta oder in den Sozialen Medien, Israel dient als Symbol für das „Böse“, als Täter- und Kolonialstaat, der für die Krisen dieser Welt verantwortlich sei. Hier ist es einfach, sich auf die Seite der vermeintlichen Underdogs zu stellen und damit für eine gerechtere Welt einzustehen. Dass auch hier historische und politische Realitäten stark vereinfacht werden, scheint die wenigsten zu stören.

Das Eintreten für ein „freies Palästina“ schien nicht nur mehreren Künstler*innen, sondern auch zumindest einer Reihe von engagierten Besucher*innen ein Anliegen zu sein; ganz gleich, welches Exponat – wo immer es die Gelegenheit gab, einen Beitrag zur Ausstellung zu leisten, der Slogan „Free Palestine“ war in der Regel leicht zu erkennen und ein Bezug zum Holocaust war schnell zu finden. Beiträge und Kunstwerke zur Lebensrealität in Afghanistan, kurdischen Gebieten, dem Iran, der indigenen Bevölkerung in Nord-, Mittel und Südamerika, in Somalia oder dem Kongo gab es hingegen kaum. 

Bunte Schmierereien auf einem weißen Hintergrund. Zwei Schriftzüge sind übereinander geschrieben, sodass sie schwer auseinander zu halten sind. Der eine lautet "Free Palestine from genocide." Der zweite, in etwas dickeren Buchstaben, sodass der erste teils überdeckt ist, lautet "Free Israel from antisemitism." Um diese Sprüche herum sind die folgenden Hashtags lesbar: # be smart, # modern Holocaust, # Don't repeat history

Ein Phänomen, dass uns an die Beiträge aus sozialen Medien erinnert, die wir analysieren. Trotz all der Ungerechtigkeiten auf dieser Welt, stoßen wir besonders häufig auf Solidarisierungen mit Palästina. Solidarisierungen, die in vielen Fällen in Dämonisierungen des Staates Israel münden und diesem das Existenzrecht absprechen. Sei es im Vergleich Israels mit dem nationalsozialistischen Deutschland, einer Gleichsetzung israelischer Militäraktionen mit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine oder in der Nutzung altbekannter antijüdischer Stereotype im Sprechen über Israel: Kindermörder, Brunnenvergifter – Israel gilt als das Böse schlechthin auf der weltpolitischen Landkarte.

Eine verpasste Gelegenheit

Unser documenta-Besuch hat uns auf ein Neues verdeutlicht, wie sehr wir eine offene Debatte, Austausch, gegenseitiges Verständnis und ein Miteinander brauchen. Als Gesellschaft tragen wir eine gewisse Verantwortung, allen marginalisierten Stimmen Gehör zu verschaffen. Diese Ziele hatte sich auch die documenta fifteen und die Künstler*innengruppe ruangrupa gesetzt.

In unserer hypervernetzten Welt sind wir ständig von einer Vielzahl an Perspektiven und Meinungen umgeben. Zwischentöne sind wichtig und gerade die sozialen Medien ermöglichen es, unterschiedliche Sichtweisen und Stimmen auszudrücken und zu hören – alle können hier zu Wort kommen. Für uns waren die Ereignisse rund um die documenta eine wichtige Erinnerung daran, einen ehrlichen und einfühlsamen Austausch in den Mittelpunkt des Diskurses zu stellen, in dem komplexe Lebensrealitäten nicht vereinfacht in Schwarz und Weiß, Gut und Böse dargestellt werden. Wir müssen Debatten über (Post)kolonialismus, Antisemitismus und Rassismus führen und die verschiedenen Standpunkte und Erfahrungen berücksichtigen, ohne dabei in Parolen und Slogans zu verfallen. Wir hoffen mit unserem Projekt dazu beitzutragen, dass insbesondere jüdische Stimmen und dadurch auch andere marginalisierte Stimmen Gehör finden.

Was in der öffentlichen Debatte um die documenta leider übriggeblieben ist, ist das Gegenteil. Wieder einmal bleibt die Idee hängen, dass Jüdinnen*Juden unseren weltoffenen Diskurs bestimmen wollen und kontrollieren was gesagt werden darf und was nicht. Ein Effekt, der all den polarisierten Debatten in sozialen Medien neue Nahrung geben kann.

Wieder einmal wurden jüdische Stimmen nicht gehört, obwohl es alle Möglichkeiten dazu gegeben hätte. Wenn wir als Gesellschaft wahrhaftig anstreben, jegliche Formen der Ungleichheit und Ausgrenzung zu überwinden, scheint es für unsere zukünftige Entwicklung unabdingbar, aus der misslungenen Debatte um die documenta fifteen zu lernen.

Foto einer der Hauptschauplätze der documenta, der Friedrichsplatz in Kassel. Gebäude im Hintergrund und an der Seite umrahmen einen blauen Himmel über einer grünen Wiese. Mittig im Himmel schwebt vor der Sonne eine große Wolke, sodass ein Ring aus Licht entsteht.

Verlinkte Quellen

https://documenta-fifteen.de/

https://www.sueddeutsche.de/muenchen/voegel-muenchen-rias-theaterstueck-metropoltheater-1.5716473

https://www.forbes.com/sites/marisadellatto/2022/12/02/kanye-wests-anti-semitic-troubling-behavior-heres-everything-hes-said-in-recent-weeks/

https://auschwitz.info/en/press/press-informations/press-information-single/lesen/the-most-recent-anti-semitic-manifestations-at-documenta-fifteen-2638.html

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